Annemarie Selinko, Journalistin und Schriftstellerin

Teil 1 – Als Journalistin in Wien

Der Lauf der Welt wird aus der Sicht von Männern erzählt. Wir lernen es bereits im Schulunterricht. Das ist so selbstverständlich, quasi dogmatisch, dass wir es nicht hinterfragen. In der Vergangenheit hatte dieser Umstand eine solch absurde Auswirkung, dass eine Schülerin* bei der mündlichen Deutsch-Matura den »Vater-Sohn-Konflikt in der Literatur« anhand ausgewählter Bücher** behandeln sollte. Frauenfiguren wurden dabei ebenso weggelassen, wie Bücher weiblicher Autoren auf der Leseliste. Eben weil der deutschsprachige Kanon das so hergibt. In den vergangenen Jahren ist allerdings mit #dieKanon eine Diskussion dazu entstanden, ob ein literarischer Kanon tatsächlich zwingend nur aus männlichen Autoren bestehen muss. Nicht zuletzt deshalb ist es hoch an der Zeit, zu unrecht vergessene schreibende Frauen wieder sichtbar zu machen. An dieser Stelle soll an die Bestsellerautorin und Journalistin Annemarie Selinko erinnert werden.

Geburt in Wien

Der Erste Weltkrieg war gerade einmal fünf Wochen im Gange, als Annemarie Selinko am 1. September 1914 in Wien zur Welt kam. Sie wurde in eine sich auflösende Monarchie, in ein neues Zeitalter, hinein geboren. Nur wenige Jahre später sollte das Kaiserreich Österreich-Ungarn aufhören zu existieren. Wann immer in Biographien ihre Herkunft erwähnt wird, heißt es, sie sei Tochter des jüdischen Textilhändlers Felix Selinko gewesen. Ihre Mutter Grete, geborene Wolf, bleibt meist ausgespart. Die Eltern trennten sich 1920; drei Jahre nach der Geburt der Schwester Liselotte. Über den Vater ist bekannt, dass er als Rittmeister a. D. großzügig auf die ihm zustehende staatliche Pension verzichtete. Er dachte, als Mitinhaber der Brüder Selinko mechanische Weberei mit Sitz in Inzersdorf sein Auskommen zu haben. Kriegsanleihen und die steigende Inflation belehrten ihn eines besseren. Die Arisierung des Betriebes 1938 sollte Felix Selinko nicht mehr erleben.

Vom Schreiben in jungen Jahren

Lesen und schreiben gehörte offenbar schon früh zu Annemarie Selinkos Leben. So veröffentlichte sie etwa bereits mit 13 Jahren Kurzgeschichten. Als 15-jährige Mittelschülerin verfasste sie einen Artikel für die Neue Freie Presse, in dem sie einer Besprechung des kurz zuvor erschienenen Romans »Der Schüler Gerber« von Friedrich Torberg heftig widersprach: »Wir sind nicht wie der ‚Schüler Gerber‘«. Rückblickend ist es ihre erste journalistische Arbeit, der weitere Veröffentlichungen folgen sollten.

Spot auf die Journalistin Annemarie Selinko

Nach der Matura im Realgymnasium des Schulvereins für Beamtentöchter in der Lange Gasse in Wien-Josefstadt, studierte sie anfangs ein Semester Sprachen und Geschichte an der Universität Wien. Daneben nahm sie Schauspielunterricht am Max-Reinhardt-Seminar. Denn auch das Theaterspielen hatte sie schon früh für sich entdeckt. Am Ende wurde sie dann aber doch Journalistin. Beim Einstieg half ihr zum einen Willi Frischauer, der verantwortliche Redakteur der Wiener Sonn- und Montagszeitung und zum anderen Hans Habe. Felix Selinko hatte ihm seine Tochter noch als Schülerin vorgestellt. Daher holte er die 19jährige später in die Redaktion der Österreichischen Morgenzeitung und in das Wiener Mittagsblatt. Er wurde Annemarie Selinkos Chef und Mentor.

Am Beginn steht eine Reportage aus Linz

Der erste lange Artikel Annemarie Selinkos war am 26. November 1934 in Der Morgen Wiener Montagblatt eine Reportage aus Linz. Darin interviewte sie die Witwe und Kinder eines Ermordeten, der seine Tochter seit deren dreizehnten Lebensjahr missbraucht hatte. Die Hinterbliebenen setzten sich für Nachsicht mit dem verurteilten Mörder ihres getöteten Ehemannes und Vaters ein, der der Freund des ältesten Sohnes und Verlobter der Tochter war. Die Reportage liest sich flüssig, ist aber aufgrund der kaum versteckten Absicht ein auf ein breites Publikum ausgelegtes emotionales Rührstück.

Bereits für ihren zweiten Artikel wechselte sie von der Chronik in die Kultur und interviewte die heute vergessene Schweizer Dirigentin Carmen Studer, die 44 Jahre jüngere Ehefrau des in jenen Tagen designierten Staatsoperndirektors Felix von Weingartner. Von ihr schrieb Annemarie Selinko auf: »Ich denke nicht daran, als Frau Staatsoperndirektor in meiner neuen Heimat zu leben, ich bleibe die Dirigentin Carmen Studer, die ganz allein ihren Weg gehen muss.«

Fast unmittelbar nach dem Tod ihres Vaters am zweiten Weihnachtstag 1934 interviewte sie als Sonderberichterstatterin und einzige Journalistin den Sohn des Zeitungszaren Lord Rothermere, Esmond Harmsworth, in Kitzbühel. Annemarie Selinko ließ darin bereits einen gewissen Stil erkennen, der sich durch Wiederholungen und Beschreibungen ihres Gegenübers auszeichnete sowie durch einen persönlichen Ausstieg, der das eigentliche Gesprächsthema beinahe vergessen lässt.

Eine weitere Woche später veröffentlichte Der Morgen ihren Artikel zur erst fünfzehnjährigen Modesalon-Erbin Mimi Grünbaum. An dessen Ende setzte sie ein Wort, das sie als Schriftstellerin später noch häufig für Frauen verwenden würde: klein

Es folgten ein Bericht aus Schärding, einer zu einem Wien-Besuch Fritzi Massarys sowie eine Reportage über die anstehende Versteigerung des Inhalts einer 17-Zimmer-Wohnung in der Alserstraße.

Erste Artikel für Die Bühne

Im Jahr darauf schrieb sie erstmals neben ihrer Tätigkeit für Tageszeitungen auch für Die Bühne. Es war erneut eine Reportage. In »Eine Viertelstunde Frühling – 12 Groschen« behandelte sie die Miete der Sessel im Stadtpark.

Erst im Juli 1936 war in der Bühne wieder etwas von ihr zu lesen. Sie berichtete über eine Reise durch die Kurorte Karlsbad, Marienbad, Franzensbad und Teplitz-Schönau, zu der das tschechoslowakische Außenministerium Pressevertreter:innen geladen hatte – wie es im vorangestellten Disclaimer des Artikels heißt. Nur ein paar Seiten weiter schrieb sie über das Bräunen auf Sonnendächern. Auch in der darauffolgenden Ausgabe ging es um den Sommer; genauer um »Ausflug in die Sommerfrische Wien«.

Im Oktober und im November 1936 widmete sie sich offenbar vorrangig Vorträgen zum Thema »Wir Reporter« für den Bund für neue Lebensform (als »Institut Dr. Schmida« bis heute existent) und Frauenschaft (nicht zu verwechseln mit der NS-Organisation gleichen Namens, sondern die Nachfolgeorganisation der 1934 aufgelösten Österreichischen Frauenpartei).

Im Jahr darauf schrieb Annemarie Selinko einen Artikel für die Bühne mit dem an Vicki Baum erinnernden Titel »Wir Menschen im Hotel« über einen internationalen Hotelkongress in Wien und über ein großes Wiener Spielwarengeschäft, betitelt mit »Annemarie Selinko spricht mit dem Lieferanten vom Weihnachtsmann« und sie interviewte eine alleinreisende Dame.

Wohl durch die Bekanntschaft mit Literaten und Kulturschaffenden, wie Franz Theodor Csokor, Joe Lederer oder Hertha Pauli, die sich allesamt in Selinkos Wohnung trafen, folgten eine Reihe von Interviews, wie jenes mit dem Ehepaar Wessely/Hörbiger, mit dem Privatgelehrten Friedrich Eckstein über dessen Erinnerungen an seine 25jährige Bekanntschaft mit Johannes Brahms sowie ein Gespräch mit Egon Friedell.

Ihren letzten Artikel in Österreich verfasste sie 1938. Unterzeichnet war das »Gespräch mit einer Blumenfrau über den Frühling« nur noch mit A. S. Unmittelbar danach verließ sie das Land. Zu dieser Zeit war Annemarie Selinko bereits selbst ein literarischer Shooting-Star. Im März 1937 war ihr erster Roman »Ich war ein häßliches Mädchen« erschienen, bei dessen Bewerbung sie auf ihre Zeitungskolleg:innen zählen konnte. Dazu aber mehr in einer Woche – Im 2. Teil über »Die Schriftstellerin Annemarie Selinko«.

*ich
** Schiller, Friedrich: Die Räuber; von Eschenbach, Wolfram: Parzival; etc.

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