Die Pandemie hat viele Nachteile. Sie hat überraschenderweise aber auch einen großen Vorteil: Wir wurden innerhalb weniger Monate in rasendem Tempo beinahe so etwas wie Online-Expert:innen. Und das, nachdem Österreich die Digitalisierung jahrelang verschlafen und etwa die Ambitionen der finnischen EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2019 oder deren beispielhafte Umsetzung in Estland nur sanft abgenickt hatte. Es gibt mittlerweile kaum noch jemand, der nicht schon in einem Zoom-Meeting oder einer anderen virtuellen Zusammenkunft war. Der Unterricht erfolgt dennoch zumeist mehr schlecht als recht. Das war nach jahrelanger Untätigkeit bei der Entdeckung von »Neuland« wohl auch nicht anders zu erwarten.
Aber es sind nicht nur Schule und Beruf, die ins Netz geradezu abwandern mussten. Es sind auch die Kulturbetriebe. Wenn die Gebäude geschlossen bleiben müssen, sind Organisationen schlichtweg gezwungen, Gäste oder Zuschauer auf andere Weise zu erreichen. Das betrifft etwa die Museen. Einige nutzen den derzeitigen Lockdown, um sich in virtuellen Führungen an Interessierte zu wenden. Zum einen sind die Mitarbeiter:innen auf diese Weise beschäftigt und können ihr ansonsten brachliegendes Wissen weitergeben, zum anderen ist es natürlich eine großartige PR-Möglichkeit. Eine Gelegenheit zum Dialog mit den Stakeholdern. Aus Interesse an der Nationalbibliothek, deren Lesesaal ich während des Studiums zu lieben begonnen hatte, nahm ich an einem Nachmittag vom Schreibtisch aus an einer dieser virtuellen Führungen teil: Die Online Führung durch den Prunksaal der Nationalbibliothek. Im Folgenden eine knappe Analyse samt Wiedergabe einiger Inhalte.
Eine Führung wie ein Gratis-Webinar
Die Idee war, zu sehen, auf welche Weise eine solche Institution versucht, einen derart atemberaubenden Raum wie den Prunksaal virtuell erlebbar zu machen. Als jemand der bekanntermaßen selbst seit fast einem Jahr Online-Kurse anbietet, interessierte mich neben den Inhalten auch die Vermittlung. Zu Beginn kündigt eine in einem kleinen Fenster am Bildschirm sichtbare junge Frau mit ruhiger Stimme freundlich eine halbstündige Führung an. Der Rest der veranschlagten 45 Minuten sollte für Fragen aus dem Chat zur Verfügung stehen. Soweit ist dieses Konzept auch jenen bekannt, die im vergangenen Jahr eines meiner unzähligen Gratis-Webinare zum Thema »Atmen und Sprechen« besucht haben. Die Stimme der Frau ist klar, mit einem leichten Tiroler Einschlag, was sehr sympathisch klingt. Dass sie offenbar das integrierte Mikro verwenden muss und dieses etwas übersteuert klingt, dafür kann sie nichts.
Sehr rasch kommt sie zum Punkt und erklärt genau, was die Besucher:innen im Folgenden erwartet. In einem größeren Fenster auf dem Bildschirm erscheint der Prunksaal, wie er beim virtuellen Besuch auf der Website zu sehen ist. Daneben haben Zuschauer:innen die ganze Zeit die Frau im Blick. Sie ist sparsam mit ihren Gesten und lächelt während des ganzen Vortrages, was es angenehm macht, ihr zuzuhören.
Inhaltlich erfährt man, dass die Bibliothek eine Idee Kaiser Karls VI war, dem Vater Maria Theresias. Er ließ das Gebäude von Vater und Sohn Fischer von Erlach im 18. Jahrhundert errichten. Die Bauzeit dauerte nur sieben Jahre. Der Prunksaal war in nur drei Jahren fertiggestellt. Schon damals gab es Bibliotheken. Diese befanden sich jedoch in den Häusern reicher Leute oder in Klöstern. Eine öffentliche Bibliothek war ungewöhnlich. Ein eigenes Gebäude dafür war nachgerade eine Neuerung. Im Prunksaal selbst befinden sich lediglich 200.000 Bücher. Einige der Bücher stammen aus der Zeit der Erfindung des Buchdrucks und sind an die 500 Jahre alt. Zusätzlich gibt es noch eine eigene Handschriftensammlung sowie eine Papyrussammlung.
Fehlendes Ordnungsprinzip
Die junge Frau erklärt weiter, dass die Bücherregale im Prunksaal aus Nussholz gefertigt seien. Ordnungsprinzip gäbe es für die darin aufbewahrten Bücher allerdings keines. Ursprünglich war eine thematische Ordnung, wie etwa Religion, Naturwissenschaften etc., geplant. Die Bibliothek begann jedoch, ganze Kollektionen anzukaufen. Diese sollten nicht getrennt werden und wurden daher gemeinsam ins Regal gestellt. Erkennbar ist das etwa am gleichen Einband in einigen Regalen. Ganz orientierungslos war der Bibliothekar dennoch nicht. Er hatte ein Verzeichnis, in dem 300.000 Bücher samt Informationen, wie etwa auch der entsprechenden Regalnummer standen.
Man erfährt weiter: Die Aufbewahrung der Bücher in den Regalen erfolgt nach dem Christbaumprinzip. Aufgrund der Schwere der Bücher finden sich die großen Bücher in den unteren Regalen und die kleinen in den oberen. Damit war gesichert, dass der Bibliothekar in dem hohen Raum keine schweren Bücher nach unten oder oben tragen musste.
Vor den Regalen finden sich Tische mit riesigen Büchern, mit Kartenwerken. Diese Tische dienen bei den drei jährlich stattfindenden Sonderausstellungen als Ausstellungsflächen.
Die Nationalbibliothek besitzt über 3.000 Jahre alte Handschriften. Welches das älteste gedruckte Buch ist, lässt sich allerdings nicht feststellen. Denn zu Beginn des Buchdrucks war es nicht üblich, Autor und/oder Jahr anzugeben.
Alle Bücher online einsehbar
Die junge Frau lässt eine weiter wissen: Alle Bücher des Prunksaals sind für Besucher mit einem Leseausweis einschaubar, jedoch nicht entlehnbar. Nach fünf Jahre dauernder Digitalisierung unter Mithilfe von Praktikanten der Universität Wien sind die Bücher mittlerweile aber ohnehin online einsehbar – und das ohne einen Leseausweis. Die häufigste vertretene Sprache der im Prunksaal ausgestellten Bücher ist Latein.
Generell wurde im Barock alles gesammelt, was man bekommen konnte, erzählt die Frau mit freundlicher Stimme weiter. Es ging damals auch darum zu zeigen, wie reich und weltoffen man war. Das sollte eine große und reichhaltige Sammlung widerspiegeln, die man nur zu gerne präsentierte.
Der Kaiser als Marmorstatue
Schließlich drehte sich in der Barockarchitektur alles um Selbstrepräsentation. Es gab viel Dekoration, wobei die Motive in dieser Dekoration auf den Bauherrn hinwiesen. So ist der Kaiser etwa als Marmorstatue in Form eines Römers dargestellt. Darin vereinigt er die Stärke von Herkules und die musischen Eigenschaften in einer Person. Das Thema spiegelt sich auch überall im Prunksaal wider. So zeigt etwa die Deckenmalerei eine Apotheose des Kaisers. Er ist auf einem Medaillon abgebildet, das von 3 Göttern in den Himmel gehoben wird: darunter wieder Herkules und Göttervater Zeus. Aber auch der Prunksaal selbst ist an der Decke abgebildet.
Über – und unter – allem die Sonne
Ein weiteres Motiv ist die Sonne. Am Boden unter der Statue ist eine Sonne abgebildet. – Das deutet auf den Sonnenkaiser hin. Zudem wollte Kaiser Karl VI, dass drei Sonnen den Prunksaal erhellen, wenn er morgens hineinkommt. Dazu ließen sich die Architekten etwas einfallen: Die erste Sonne ist in der Malerei abgebildet. Die zweite ist die echte Sonne. Sie scheint morgens durch ein Fenster, das sich unmittelbar unter dieser Malerei befindet. Diese Morgensonne wirkt wie ein Scheinwerfer. Sobald der Kaiser in diesem Scheinwerfer stand, war er selbst die dritte Sonne.
Nach genau 30 Minuten ist die kurzweilige und überaus informative Führung beendet und die junge Frau beantwortet Fragen aus dem Chat.
So gab es damals etwa bereits Sicherheitspersonal, also Aufpasser. Es gäbe aber keine Aufzeichnungen darüber, dass Bücher gestohlen oder zerstört worden seien. Wenn es passiert sein sollte, wollte man vermutlich nicht, dass es bekannt wird.
Zu meiner Frage der Pflege der Bücher erfährt man, dass es eine sehr kostenintensive Arbeit ist. Um diese zu unterstützen werden auch laufend Buchpaten gesucht, die sich auf der Website der Nationalbibliothek dafür anmelden können.
Wer jetzt noch wissen will, was es mit den »Sternkammern« auf sich hat, was Prinz Eugen und sein Nachlass mit dem Prunksaal zu tun hat und wie der Kaiser verhinderte, mit seinem Volk im Prunksaal zusammenzutreffen, der sollte die virtuelle Führung keinesfalls verpassen. Während des Lockdowns wird die Führung derzeit pro Woche gleich mehrfach angeboten.
Disclaimer: Dieser Text ist aus eigenem Antrieb zum Zweck der Analyse entstanden. Ich wurde dafür nicht bezahlt.