Anstelle eines Jahresrückblicks

Zum Ende jeden Jahres haben Rückblicke Hochkonjunktur. Das ist gut, um uns daran zu erinnern, was wir von diesem Jahr vielleicht schon wieder vergessen haben, woran wir uns aber erinnern sollten. Welchen Sinn aber hat es, einen intimen Jahresrückblick zu veröffentlichen? Und das noch dazu nach einem so speziellen Jahr? Im Folgenden ein paar Gedanken dazu.

In den vergangenen Tagen und Wochen sind mir jede Menge persönlicher Jahresrückblicke untergekommen, ohne dass ich aktiv danach gesucht hätte. Zumeist las ich schließlich nur noch die Schlagzeile und war wieder weg. Ich weiß also nicht, wie das Jahr 2020 für Herrn oder Frau Powidl ausgesehen hat. Nach einem Jahr, das für so viele auf solch negative Weise besonders war, braucht es da auch noch die individuelle öffentliche Auseinandersetzung? Die Betonung liegt tatsächlich auf öffentlich. Braucht es diese Nabelschau auf Youtube, Instagram, Facebook und Twitter? Oder womöglich gegen Bezahlung als Monolog in Blogs, auf Online-Portalen oder in Print? Wo ist hier der Mehrwert? Bei all den Möglichkeiten der Teilhabe, die wir mittlerweile haben, sollte nach meiner Ansicht doch nicht das eigene Wohlbefinden, sondern das Teilen und damit der Nutzen der Inhalte für andere im Mittelpunkt stehen. Für das Ablassen persönlicher Befindlichkeiten, wie Enttäuschungen, gibt es doch das altmodische Tagebuch – in Papierform oder digital. Zur Not tut es während des Jahres auch ein anonymer Twitter-Account. Dort lässt sich dann nach Herzenslust motzen.

umdrehen – hinsehen – bedauern

Obwohl ich es von mir schob, ließ ich mein persönliches Jahr 2020 allerdings dann ebenfalls noch ganz für mich allein Revue passieren. Meine Erkenntnisse dieses Rückblicks hielt ich auf Papier fest, weil es nach meinem Gefühl dann noch einmal anders wirkt und eins die Worte anders abwägt. Der Grund, weshalb ich es trotz anfänglichen Widerwillens tat, war die Ende November hier angekündigte Schreib-Challenge. Ich gebe zu, ich habe von 1. bis 31. Dezember nicht täglich durchgehalten. Es waren Aufgaben dabei, die mich nicht betrafen oder für die ich mehr Zeit bräuchte, als ich zur Verfügung hatte. Ich nutzte lediglich die Gelegenheit, täglich zu schreiben. Die Frage, was 2020 für mich schlecht und was gut lief, die konnte ich mir jedoch beantworten. Und auch wenn ich es nach viel Überwindung tat: Nein, ich mochte es nicht. Es widerstrebte mir. Es bedeutet für mich ja doch nur, sich umzudrehen, noch einmal hinzusehen, wo eins für sich falsche Entscheidungen getroffen und sinnlos Zeit liegen gelassen hat. Am Ende steht das Bedauern. Das Bedauern, wie das Jahr für andere und für eine selbst verlaufen ist. Die Erkenntnis lautet auch nicht, das, was eins selbst in der Hand hat, im neuen Jahr anders oder besser machen zu wollen. Sie lautet schlicht: weiterzumachen. Wenn ich etwas mit meiner pragmatischen Haltung gelernt habe, ist es, dass alles einmal vorbei geht und es hilft, nach vorne zu blicken.

So gesehen, muss das Ende des einen Kalenders und der Beginn des neuen nicht wirklich Ende und Neuanfang sein. Es kann auch einfach eine Brücke sein. Neu anfangen kann eins schließlich jeden Tag. Dazu bedarf es keines Schlages der Pummerin, des Erklingen des Donauwalzers und eines »Prosit Neujahr!«-Ausrufes.

Private Rückschau

Wo aber ist jetzt der Mehrwert dieses Posts, den ich so forsch von anderen einfordere? Nun, es ist mehr so die Idee, solch individuelle Jahresrückblicke als das zu sehen, was sie sein sollten: Ein Hinweis, nicht immer nur andere und Ereignisse, sondern auch sich selbst ein wenig kritischer zu betrachten. Und das ganz allein für sich im Privaten. Es sollte nicht ausschließlich darum gehen, was einer »passiert« ist, also »wie das abgelaufene Jahr so war«, sondern auch darum, wie eins mit allem umging, das »passiert« ist. Jene, die sich selbst gegenüber gerne nachsichtig zeigen, aber nicht anderen gegenüber, sollte es zudem zu einer Innenschau veranlassen. Vielleicht wäre es genau für sie eine Gelegenheit, das Maß, das sie für Handlungen und Aussagen anderer parat haben, auch an sich selbst anzulegen.

Silberstreifen bei der Innenschau

Wird sich das erfüllen? Bestimmt nicht! Denn reflektierte Menschen, die die Perspektive wechseln und sich mit den Blicken von außen betrachten, erschrecken schon einmal darüber, was sie sehen. Dabei gibt es bei dieser Innenschau – gleich ob nach einer Woche, einem Monat oder einem Jahr – auch einen Silberstreifen: Das Positive in sich anzuerkennen, bedeutet, sich selbst ein bisschen mehr wertzuschätzen und etwas an sich zu finden, mit dem sich bis zur nächsten Rückschau arbeiten lässt.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert